Ethics...against Evolution?
Marmolada 1978 - 1982
Im Herbst 1978 hatten wir entdeckt, dass es an der Marmolada im Vergleich mit anderen Dolomitenwänden noch jede Menge unberührten Fels für Freikletterrouten gab. Nach einigen Neurouten mit minimalem Materialaufwand ließ ich mich etwas leichtfertig dazu überreden, einige Artikel in Alpin-Zeitschriften zu veröffentlichen. Das löste in den folgenden Jahren eine frenetische Nacherschließung aus, die nicht nur vom Freiklettern geprägt war. Anfangs taten wir die “Post-Direttissima-Nagler” mit einem geringschätzigen Lächeln ab, weil sie sich eh nicht in die glatten Platten trauten und weiterhin in wenig attraktiven Rissen herummurksten. Doch die Situation änderte sich spätestens mit dem “Fisch”, einer eindrucksvollen Demonstration, dass man mit Hilfe von Cliffhängern und Cams auch die glattesten Wandfluchten austricksen konnte. Gleichzeitig begann es erste Sportkletterer in die Berge zu ziehen, “kulturlose Flachländler”, denen unsere Vorstellungen von alpiner Ethik scheißegal waren.
Noch war unsere alpine Welt zwar in Ordnung, aber man begann sich so seine Gedanken zu machen: Sollte man langjährig gepflegte Überzeugungen aufgeben und dem Beispiel der Sportkletterer folgen? Sollte man eine Entwicklung akzeptieren, die das Ende des klassischen Alpinismus bedeuten würde? Sollte man den konsequenten Verzicht auf Bohrhaken in großen Wänden neu überdenken? Sollte man sogar Routen von oben präparieren und einüben und den Risikofaktor komplett eliminieren?
Allein über solche Veränderungen nachzudenken grenzte an Blasphemie! Während ich die "Gefahr" kommen sah, blieb vorerst alles beim alten und der Einfluss des Sportkletterns hielt sich in Grenzen. Einerseits weil das Sportklettern sich fern vom Gebirge abspielte und wenig beachtet wurde, andererseits weil der Alpinismus tief in seiner ultrakonservativen Kultur verankert war und sich hartnäckig gegen neue Ideen wehrte.
Selbst in der jungen Generation, zu der ich gehörte, wurde Sportklettern als Selbstzweck kaum ernst genommen. Wer sich jahrelang mit dem Risiko als eigentlicher Barriere konfrontiert hatte, tat sich schwer, den Gedanken zu akzeptieren, es einfach zu vermeiden und einer rein sportlich orientierten Bewegung zu folgen.
Trotzdem wurde früher oder später das "Übertragen des Sportkletterns ins Gebirge" zum neuen Mantra in Alpin-Zeitschriften. Während ich als Gebirgskletterer dabei nicht nur an gesteigerte Schwierigkeiten dachte, sondern vor allem an längere Hakenabstände, also an weniger Sicherung durch gesteigerte sportliche Form, dachten die meisten an eine Übertragung der Praktiken des Sportkletterns ins Gebirge und damit an die Ausschaltung des Risikofaktors.
What is Evolution?
Im Sommer 1980 hatte ich zweimal den glatten Wandteil versucht, der später “Fisch” genannt wurde. Ich war gerade zurück vom Yosemite und zutiefst inspiriert von den strikten Freikletter-Regeln, die ich dort angetroffen hatte. Für mich war klar, dass es beim Stil in Zukunft keine Kompromisse mehr geben durfte. Ich wollte die Erstbegehung im Rotpunkt-Stil machen, ohne auch nur eine einzige technische Passage und ohne mit Hilfe von Cliffs Sicherungen anzubringen. Mein höchster Punkt war etwa 20 Meter links der "Fisch-Nische". Noch während wir abseilten, war ich mir sicher, dass ich es wieder versuchen würde, nächstes Jahr und in besserer Form.
Aber im nächsten Jahr eröffneten Igor Koller und Indrich Sustr den "Weg durch den Fisch", noch bevor ich für einen neuen Versuch bereit war. Sie zeigten viel Mut beim Freiklettern, benutzten aber auch technische Fortbewegungsmittel. Es war ein lobenswerter Stil, aber nicht was ich angestrebt hatte.
1981 riskierte ich an der “Abrakadabra” einen Megasturz. Ich war im oberen Wandteil weit jenseits der letzten Sicherung in brüchiges Neuland geklettert, wo mir ein Tritt ausgebrochen war. Wie durch ein Wunder konnte ich mich an einer winzigen Leiste halten, als die Füße ins Leere schwangen! Einen Moment hing ich nur mit den Fingerspitzen einer Hand an dieser Leiste, dabei mobilisierte ich ungeahnte Kräfte, die mir das Leben retteten. Ich hatte vorgezogen, in offener Wand zu klettern, statt einem Risssystem mit Sicherungsmöglichkeiten zu folgen. Es war meine schwierigste und riskanteste Seillänge an der Marmolada, doch nach alpinen Maßstäben war sie bedeutungslos, weil der Riss wenige Meter links für Wiederholer der logische Weg war.
Moderne Zeiten war meine letzte Marmolada-Neuroute. In der Folge fand ich im Sportklettern viel mehr Gemeinsamkeiten mit meiner Kletterethik, als in einem wiedererwachenden Eroberungsalpinismus. Meine Vorstellung, dass nur noch der Rotpunkt (anbringen der Sicherungen inbegriffen, kein Vorbereiten jeglicher Art) als Stil bei Erstbegehungen an der Marmolada und anderen historischen Wänden zeitgemäß war, fand nur wenig Zustimmung.
In den folgenden Jahren wurde die Marmolada mit einem dichten Routennetz überzogen. Eroberungsmentalität prägte das Geschehen, daran änderte auch das allgemein höhere Freikletterniveau nichts. Der Grundgedanke war nicht der bestmögliche Stil, sondern schneller und garantierter Erfolg.
Es gibt aber auch eine beeindruckende Ausnahme: Mein lieber alter Freund und Kletterpartner, Luggi Rieser - "Darshano", der 12 Jahre lang an der Idee einer Route durch einen der glattesten Wandteile festhielt, ohne Kompromisse an seiner minimalistischen Einstellung zuzulassen. Zusammen mit Ingo Knapp, der sich während eines Versuches bei einem langen Sturz den Fuß brach, gelang 1995 mit "Senkrecht ins Tao" die wahrscheinlich schwierigste Marmoladaroute in minimalistischem Stil (keine Bohrhaken, kein artif-klettern).
Der vielleicht letzte Vertreter der minimalistischen Kletterphilosophie, der die Limits an der Marmolada pushte, war Roland Mittersteiner. Unglücklicherweise endete ein Versuch einer Neuroute nach einem Sturz bis zum Boden mit einer schlimmen Fußverletzung.
Risiko hatte unser Spiel interessant gemacht, und Grenzen zu überschreiten gehörte dazu - andernfalls würde man es nicht Risiko nennen. Man muss wissen oder fühlen wie weit man gehen kann; manchmal geht man darüber hinaus...